ZVW Uwe Roth 24.03.2015
Waiblingen. Sind Kinder träge und übergewichtig, sollten in der Regel auch Vater und Mutter mehr für ihre Fitness tun. „Sportliche Eltern haben meistens sportliche Kinder“, weiß AOK-Sportpädagogin Brigitte Würfel. Doch Trend ist das Gegenteil: Die Trägheit nimmt zu.
Kinder kommen nicht bewegungsfaul auf die Welt. Davon können junge Eltern ein Lied singen. Keine Sekunde dürfen sie ihren Nachwuchs aus den Augen lassen, wenn er neugierig krabbelnd die Wohnung erobert und an allen möglichen Gegenständen gewagte Kletterversuche unternimmt. Hochleistungssport für Kleinkinder. Ungeduldigen Eltern unterläuft da der erste Kardinalfehler. Sie stellen das Kleinkind vor der Glotze ruhig.
Von da an beobachtet es in einer immer gleichen Haltungsstarre, wie sich im Fernsehen andere bewegen. Empfinden Eltern diesen Ruhezustand ihres Kindes als angenehm, werden sie dagegen wenig unternehmen, anstatt ihr Kind täglich für längere Zeit auf die Gass zu schicken. Weil das zum Beispiel die Aufsicht erschwert. Und weil außerdem die Gass vom Straßenverkehr bedroht ist. Und wegen des Verkehrs wird das Kind später mit dem Auto zur Schule gebracht und mittags wieder abgeholt. Von nun an ist die Rücksitzbank das zweite Kinderzimmer.
Brigitte Würfels Auftrag ist, Kindern und Jugendlichen im Kreis Bewegungsangebote zu machen. Ihre besondere Herausforderung ist dabei, an deren Eltern heranzukommen. Denn ohne Unterstützung der Erwachsenen fällt es ihr schwer, die Kinder dauerhaft in Bewegung zu bringen. Brigitte Würfel macht das für die AOK. Die Krankenkasse macht Angebote wie Power-Kids (siehe Infokasten) nicht allein zur Mitgliedergewinnung oder Kundenbindung. Denn die zunehmende Unbeweglichkeit der heranwachsenden Generation geht so richtig ins Geld und treibt die Gesundheitskosten hoch. So erkranken beispielsweise immer häufiger Kinder an Diabetes 2, unter der früher ausschließlich ältere Menschen zu leiden hatten.
„In Deutschland sank die körperliche Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen innerhalb der letzten 25 Jahre um zehn Prozent“, hat der Sportwissenschaftler Alexander Woll für die AOK herausgefunden. Mit der Folge: 40 Prozent der Grundschulkinder leiden unter Beschwerden wie Übergewicht, Magenproblemen, Kopfweh, Rückenschmerzen, Schlaflosigkeit und Konzentrationsstörungen. Die motorische Entwicklung ist eingeschränkt. Bei einer Rumpfbeuge können viele Grundschüler, wie eine Studie gezeigt hat, den Boden nicht mehr mit den Fingern berühren, wenn die Beine gestreckt bleiben.
„Kinder zu bewegen ist ein Weg aus der Trägheitsfalle“, lautet sein oft gehörter Ratschlag. Die AOK-Sportpädagogin kann diese Formel nicht oft genug wiederholen. Kernproblem sind dabei weniger die Kinder als deren Eltern. Die wollen oftmals das Dickwerden des Kindes gar nicht wahrhaben und denken sich nichts dabei, wenn es die Nachmittage sitzend in seinem Zimmer verbringt. Ihr langsam zunehmendes Bauchfett wird als Babyspeck verharmlost, da angenommen wird, dass dieser in der Wachstumsphase irgendwann von allein verschwinden wird. Doch das passiert nur dann, wenn sich mit dem Älterwerden auch der Bewegungsraum erweitert.
Eltern wachzurütteln, darin sieht auch AOK-Ernährungsberaterin Katayoun Emami ihre wichtigste Aufgabe. Bewegungsfaulheit und schlechte Ernährung sind oftmals in Kombination Ursache für mangelhafte Fitness oder erste Erkrankungen eines Kindes. „Es sind zu 90 Prozent die Eltern, die ein schlechtes Vorbild abgeben“, sagt sie. „Wie soll ein Kind verstehen, was gesunde Ernährung ist, wenn es die Eltern nicht vorleben? Sie haben dafür die Verantwortung.“ Um dies den Vätern vor Augen zu führen, lädt Emami grundsätzlich beide Elternteile zum Beratungsgespräch ein.
Fehleinschätzung des eigenen Gewichts und das der Kinder
Dabei ist ihre Geduld gefordert – und auch ihr Optimismus: „Wenn sich nach zehn Beratungen bei zwei Eltern etwas bewegt, dann ist das doch perfekt“, sagt sie. Warum sich Eltern schwertun, den offensichtlichen Fakten auch Taten folgen zu lassen, darüber kann spekuliert werden. Britische Forscher haben mit einer breit angelegten Befragung herausgefunden: Eltern nehmen weder ihr eigenes noch das Übergewicht ihrer Kinder wahr. In der Gruppe der übergewichtigen und adipösen Eltern schätzen 40 Prozent der Mütter und 45 Prozent der Väter ihr eigenes Gewicht als „ganz in Ordnung“ ein. 27 Prozent der Mütter und 61 Prozent der Väter aus dieser Gruppe machen sich keine Sorgen wegen ihres Gewichts. Lediglich 25 Prozent aller Eltern nehmen Übergewicht bei ihren Kindern überhaupt wahr, heißt es in der Studie weiter. Starkes Übergewicht bei den Kindern wurde immerhin von 67 Prozent der Mütter, aber nur von 43 Prozent der Väter erkannt. Vor allem bei den Söhnen wurde das Gewicht oft falsch eingeschätzt. Insgesamt nehmen mehr Mütter als Väter das Gewicht ihrer Kinder richtig wahr.
Solche Erkenntnisse der Wissenschaft zeigen den beiden AOK-Expertinnen, dass sie als Allererstes die Eltern in Bewegung bringen müssen, damit Kinder ihre geliebten Sitzplätze verlassen und zur Beweglichkeit ihrer frühen Kindheit zurückfinden.