SWP Uwe Roth 16.12.2016
Lärmschutz, Kühlung, Luftbefeuchter, Feinstaubfilter – Moose sind ein Segen fürs Stadtklima, sagt Botaniker Martin Nebel. Jetzt gilt es, das zu beweisen.
Dass grüne Politiker Moosen mit Sympathie begegnen, liegt wohl in der Natur der Sache, können die unscheinbaren Pflanzen doch zur Luftreinhaltung beitragen. In Ökokreisen wird seit vielen Jahren über den Nutzen der Bryophyta (Laubmoose) für ein besseres Stadtklima diskutiert. Labortests ergaben, dass Moose noch aus vergifteter Luft Nahrung holen und dank großer Wasserspeicher der Hitze der Großstadt trotzen können. Freilandversuche im großen Stil gibt es bisher jedoch nicht.
In Stuttgart wird sich das im Frühjahr bekanntlich ändern. Am Feinstaubknotenpunkt Neckartor werden, wie berichtet, auf 100 Meter mit Moosflächen bestückte Wände aufgestellt und über ein Jahr wissenschaftlich beobachtet. Die Grünen im Gemeinderat haben das Projekt angestoßen. Und es macht ihnen nichts aus, dass ihr Vorschlag, Moose gegen Feinstaub einzusetzen, gelegentlich „ein bisschen ins Lächerliche gezogen wird“, wie Gabriele Munk sagt. Sie ist Mitglied der Grünen-Fraktion und im Umweltausschuss vertreten. So sei gelästert worden, man solle Autos bemoosen, damit sie ihren eigenen Feinstaubausstoß schlucken könnten. „Solche Lästereien sind am Ende gar nicht schlecht. So werden Moose zum Stadtgespräch“, stellt sie fest.
Mitglied eines Forscherteams
Dass es nun zu einem bisher einmaligen Straßenrandversuch kommt, haben die Grünen einem besonderen Umstand zu verdanken: Martin Nebel ist nicht nur ehrenamtlicher Naturschutzbeauftragter der Stadt, sondern zugleich ein weltweit anerkannter Experte für Moose und Flechten. Seit den 1980er Jahren beschäftigt sich der 65-Jährige intensiv damit – seit 27 Jahren als Mitarbeiter des staatlichen Naturkundemuseums am Rosensteinpark. Seine aktuellen Projekte führen ihn bis nach Ecuador, wo er als Teil eines Forscherteams die genetische Vielfalt der Moose und Farne im Regenwald untersucht.
Gegen eine solche Expertise hatten Skeptiker keine Chancen: Die Stadt gibt für den Test knapp 390 000 Euro, das Land legt rund 170 000 Euro drauf. „Stuttgart ist die erste Stadt weltweit, die so einen Versuch macht“, sagt Martin Nebel. Mit dem Forschungsprojekt betrete man „völliges Neuland“. Noch sei überhaupt nicht klar, ob das in Städten natürlich vorkommende Kurzkapselmoos auf den senkrecht aufgestellten Wänden anwachse. Im besten Fall jedoch, so seine optimistische Prognose, könnte Stuttgart „zur Moos-Stadt werden“ und nicht länger die Stadt mit der dreckigsten Luft.
Für den Botaniker sind Moose ein Naturschatz und ein Wohlfühlindikator zugleich. Er sagt: „Wo sich Moose wohlfühlen, fühlt sich der Mensch wohl.“ Moose an Bäumen seien ein Zeichen für saubere Luft, fehlten sie, sei das Gegenteil der Fall. Das Geheimnis der Moose, von denen es fast 20 000 Arten gibt, ist nach seiner Schilderung die Blattstruktur, die auf kleinstem Raum eine riesige Oberfläche ermöglicht. Nach seinen Berechnungen finden auf einem Quadratmeter 120 000 Pflanzen Platz mit einer gesamten Blattfläche von 23 Quadratmetern. Um einen 7000 Quadratmeter großen Fußballplatz abzudecken, würde man rein theoretisch eine Moosfläche von gerade mal 300 Quadratmetern benötigen.
Im Innern bieten Moose außerdem Raum für sehr viel Wasser: bis zu 14 Liter auf einem Quadratmeter. Starkregen nach einer Trockenperiode wird wie von einem Schwamm aufgesogen. „Moose sind ein riesiger Wasserspeicher, und sie verhindern durch ihre Verästelung eine Versiegelung des Bodens“, sagt der Wissenschaftler. Würden Landwirte das Moos nicht bekämpfen, sondern natürlich wachsen lassen, „hätte es die Flutkatastrophe in Braunsbach nicht gegeben“, ist er überzeugt.
Luft kühlt bis zu fünf Grad ab
Das Stadtklima profitiere von solchen Eigenschaften auf vielfache Weise. Mit ihren Wasserspeichern sei Moos eine natürliche Klimaanlage, die Luft bis zu fünf Grad Celsius abkühlen könne. Da die Erderwärmung den Innenstädten besonders zusetze, ist für ihn Moos eine weitere Option, der Hitze entgegenzuwirken. Moospolster diene außerdem dem Lärmschutz. In welchem Umfang das möglich ist, soll der Versuch an der Neckarstraße ebenfalls ergeben.
Martin Nebel sagt aber auch, dass Mooswände das Feinstaubproblem dort nicht lösen werden. Dass auf einem Quadratmeter bis zu rund 300 Milliarden Feinstaubpartikel gebunden werden könnten, die auch durch Regenwasser nicht wieder ausgewaschen würden, klinge zwar sehr beeindruckend, doch es sei nur ein Bruchteil dessen, was Fahrzeuge insgesamt ausstießen. Mooswände könnten folglich nur einen Teil der Feinstaubbekämpfung sein.