SWP Uwe Roth 01.08.2017
Die Stammheimer nennen sich nicht Stuttgarter, und sie pflegen ein recht entspanntes Verhältnis zum berühmt-berüchtigten Gefängnis.
Stammheim ist der nördlichste Stadtteil von Stuttgart und durch das riesige Gelände des Rangierbahnhofs von der Stadt Kornwestheim getrennt. Wer im Internet über Stammheim etwas erfahren möchte, landet unweigerlich zuerst bei einem Eintrag über die Justizvollzugsanstalt (JVA).
Mit den Terroristenprozessen in den 1970er Jahren ist Stammheim für immer zum Synonym für ein Stück deutscher Geschichte geworden. Ein Film über die Baader-Meinhof-Gruppe, der 1986 in die Kinos kam, heißt schlicht Stammheim. Und jeder wusste sofort über den Inhalt Bescheid. Im April dieses Jahres zeigte „Das Erste“ eine Dokumentation zum Thema – ebenfalls mit Stammheim im Titel. Der Ruf hält sich.
„Wir haben nicht Indianer und Cowboy gespielt, sondern Bader-Meinhof-Bande“
Um mehr über Stammheim zu erfahren, muss man in die Bibliothek oder trifft sich am besten mit Albrecht Gühring. Er entstammt nicht nur einer alteingesessenen Stammheimer Familie, sondern hat die Geschichtsforschung erlernt. Seit über 25 Jahren leitet der 52-Jährige das Archiv der Schillerstadt Marbach. Aufgewachsen ist der Archivar auf einem Aussiedlerhof nahe Stammheim. An die Zeiten der Roten-Armee-Fraktion (RAF) kann er sich gut erinnern. „Wir haben nicht Indianer und Cowboy gespielt, sondern Bader-Meinhof-Bande“, sagt er lachend. Während der Prozesstage seien die Bauern auf ihren Äckern streng kontrolliert worden, auf denen er auch geholfen habe. „Spannend und beängstigend ist das gewesen“, erinnert er sich.
Stammheim Ende des 12. Jahrhunderts erstmals erwähnt
Dabei hat die Geschichte der JVA harmlos begonnen: 1963 ist sie mit anspruchsvoller Sicherheitstechnik erbaut worden. Zum damals modernen Knast gehörte ein Feld, auf dem die Gefangenen arbeiteten. Bis zum Einzug der ersten Terrorverdächtigen sei es friedlich zugegangen.
Die Stammheimer empfinden nach seiner Beobachtung den ständigen Bezug zur JVA nicht als Makel. „Im Gegenteil, sie nehmen es eher als Gefühl war, etwas Besonderes zu sein.“ Sprüche wie „ah, hast du Freigang“, wenn sie außerhalb ihres Bezirks angetroffen werden, stecken sie entspannt weg. Wert auf eine eigene Identifikation zu legen, hängt sicher mit der Geschichte des Orts zusammen. Ende des zwölften Jahrhunderts wurde er erstmals urkundlich erwähnt und war im Besitz der Herren von Stammheim. Zuerst residierten diese in einem Wasserschloss. 1579 ließen sie sich an gleicher Stelle vom bekannten Hofbaumeister Heinrich Schickhardt im Ort ein Schloss bauen. Heute ist dort ein Alten- und Pflegeheim untergebracht.
Stammheim war Teil des Oberamts Ludwigsburg
Stammheim war eine Enklave, Württemberg war für die Bewohner quasi Ausland. Bei den Finanzen und dem Wunsch, „nach außen“ zu heiraten, habe sich dieser Umstand bemerkbar gemacht, weiß der Historiker. Dafür musste man sich eine Genehmigung einholen. So waren Wegzüge eher selten. Bis heute macht sich das an alten Familiennamen bemerkbar, die auffallend häufig vorkommen, so auch der Name Gühring. 1734 ging das Adelsgeschlecht Pleite. Aus der Konkursmasse ging Stammheim an Württemberg über und wurde als selbständige Gemeinde Teil des Oberamts Ludwigsburg. Genau 200 Jahre später, 1934, wurde daraus der Landkreis Ludwigsburg.
Doch wiederum keine zehn Jahres später, 1942 mitten im Krieg, kam die Eingemeindung nach Stuttgart. Stammheim war damals erneut mittellos, hatte keine Industrie und erhoffte sich von der Anbindung zur großen Stadt einen finanziellen Aufschwung. Zuvor hatte der Landrat von Ludwigsburg vergeblich für eine Eingemeindung nach Kornwestheim gekämpft.
Stammheim war Hochburg der Arbeiterbewegung
Stammheim hat sich vor 80 Jahren schon als Wohngemeinde bezeichnet. Die Anfänge dazu liegen im 19. Jahrhundert, sagt Gühring. In der Zeit der Industrialisierung wurden Landwirte zu Arbeitern bei Salamander oder auf dem Güterbahnhof im benachbarten Kornwestheim. Industrieansiedlungen auf der eigenen Gemarkung hat es aus Platzgründen nie gegeben. Am Wohnort formierte sich die Arbeiterbewegung. In den 1920er Jahren galt Stammheim als Kommunisten-Hochburg.
Die Zeiten sind vorbei. Im Bezirksbeirat hat die CDU genauso viel Stimmen wie SPD und Grüne zusammen. Mit 12 000 Einwohnern ist Stammheim eine überschaubare Schlafstadt. Bis heute orientieren sich viele zum Einkaufen und in ihrer Freizeit eher in Richtung Ludwigsburg als in die Stuttgarter Innenstadt. Der Stadtbezirk ist durch die Schallschutzwände entlang der Bundesstraßen 10 und 27 sowie Bahngleisen optisch vom Rest der Stadt abgeschirmt.
Die Jungen allerdings zieht es mehr in den Kessel. Die Stadtbahn Linie 15 bringt die Stammheimer in 20 Minuten zum Hauptbahnhof. Für viele ist das die einzige Beziehung zu Stuttgart. Für den Ortshistoriker ist die Frage, ob sich die Alteingesessenen als Stuttgarter fühlen, klar zu beantworten: „Stammheimer – auf jeden Fall.“ Die alte Verbundenheit ist vor allem bei den Vereinsfesten noch zu spüren, sagt Gühring. Höhepunkt des Jahres ist der Weihnachtsmarkt. Zur Eröffnung kommt dann sogar ein Bürgermeister aus der Stadt.
Siehe auch:
http://journalistroth.eu/stadtteilportraet-weilimdorf-der-laendliche-name-taeuscht/
http://journalistroth.eu/stadtteilportraet-obertuerkheim-weinberge-und-schokoladenseiten/