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SWP Uwe Roth 12.10.2016

Unaufmerksame Fußgänger und Pkw-Fahrer provozieren immer wieder Kollisionen mit Bahnen. Die Straßenbahnen AG versucht, mit neuen Methoden ein Bewusstsein zu schaffen.

Manchmal helfen Guerilla-Methoden, um ins Bewusstsein von Autofahrern zu dringen. Stuttgarter Westen, Bebelstraße, Rushhour, viele Autos warten vor der Fußgängerampel. Drei junge Leute marschieren hintereinander über die breite Fahrbahn. Sie halten gelbe Plakate mit schwarzen Schriftzügen über ihren Köpfen. Auf denen steht: „Kommen Sie gut über die Kreuzung“, „Nicht abbiegen“ oder „Links fährt die Bahn“. Die Autofahrer staunen.

Firmenfarbe und -schrift verraten die Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) AG als Urheber der Aktion. Die Marketingabteilung hat die Methode den sogenannten Guerilla-Protesten junger Menschen in Großstädten abgeschaut. Die tauchen für wenige Momente spektakulär im Straßenbild auf, verbreiten ihre Botschaft und verschwinden wieder. SSB-Betriebsleiter Reinhold Schröter nennt es die Abbey-Road-Aktion, weil sie ihn an das berühmte Foto mit den Beatles in Gänsemarsch auf dem Zebrastreifen erinnert. In diesem Fall sind es Studenten von der Verkehrswacht Stuttgart. „Wir möchten die Autofahrer dann ansprechen, wenn sie aufnahmebereit sind“, sagt der Ingenieur, der sich in der Deutschen Verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft engagiert. Das kleine Zeitfenster vor einer roten Ampel soll genutzt werden, um die Autofahrer für ein akutes Sicherheitsproblem zu sensibilisieren: illegales Abbiegen.

Hintergrund der Kampagne „Achtung! Links fährt die Bahn!“ ist, dass vermehrt Autofahrer unerlaubterweise die Schienen in der Mitte der Straße kreuzen und dabei manchmal eine herannahende Stadtbahn übersehen. „Mit ihren über 56 Tonnen hat sie einen deutlich längeren Bremsweg als Autos, und sie können nicht ausweichen“, sagt Schröter. Bei Tempo 50 hat nach seinen Angaben eine Stadtbahn einen 25 Meter langen Bremsweg. Im Durchschnitt gab es in den vergangenen Jahren in Stuttgart etwa 20 Unfälle durch illegales Linksabbiegen pro Jahr.

Immer wieder hat die SSB solche Sicherheitsaktionen gestartet. Dabei ist bei manchem der Eindruck entstanden, die Stadtbahn sei ein gefährliches Verkehrsmittel. Fotos von geschrotteten Fahrzeugen, die mit einer Stadtbahn kollidierten, sind oftmals spektakulär. Schröter widerspricht dem Eindruck. Vergleiche man die Statistik der vergangenen 20 Jahren, sagt er, so sei festzustellen, dass die Zahl der SSB-Unfälle in Relation zur gestiegenen Fahrleistung und Beförderungsleistung um etwa die Hälfte zurückgegangen ist. „Wir sind doppelt so sicher geworden“, stellt der Betriebsleiter fest. Zudem seien die SSB-Fahrer an den wenigsten Unfällen Schuld.

Erst jüngst hat die deutsche Versicherungswirtschaft das Schienenfahrzeug an den Pranger gestellt. So sieht es zumindest Schröter. Er ärgert sich über Überschriften wie „Größtes Unfallrisiko für Fußgänger“. Dabei kam Stuttgart in der bundesweiten Darstellung der Versicherungswirtschaft mit einem Platz im Mittelfeld der Unfallstatistik noch vergleichsweise gut weg. Die Städte Karlsruhe und Freiburg führen die traurige Bilanz der Getöteten und Schwerverletzten in der Liste an.

Als Grund für die nach seiner Ansicht gute Sicherheitslage führt der Betriebsleiter an, dass sich von den 128 Schienenkilometern des SSB-Netzes die Stadtbahnen nur noch acht Kilometer mit dem allgemeinen Straßenverkehr teilen müssen. Ansonsten haben sie eine eigene Trasse. „Besonderer Bahnkörper in Mittel- oder Seitenlage“, sagen die Schienenexperten dazu. 27 Kilometer verlaufen in einem Tunnel. Die Hochbahnsteige hielten Passanten außerdem zurück, unvorsichtigerweise die Gleise abseits eines gesicherten Übergangs zu überqueren. Unfälle an Haltestellen kämen daher „so gut wie nie“ vor. Als neuralgische Unfallschwerpunkte verblieben die Kreuzungen.

Was den Bus- und Stadtbahnfahrern zunehmend zu schaffen macht, ist die nach Ansicht von Schröter Unaufmerksamkeit von Autofahrern und Fußgängern. Sie verhielten sich „zunehmend weniger vorausschauend“, seien mit ihrem Smartphone beschäftigt, beobachtet der Betriebsleiter. „Wenn Passanten einen Kopfhörer aufhaben, empfinden sie sich nicht mehr als Teil der Umgebung.“

Für die Busfahrer ist das ein besonderer Stress, sagt Schröter. Ständig müssten sie darauf gefasst sein, eine Vollbremsung einlegen zu müssen, um nicht umwelttaube Kopfhörerträger oder vom Smartphone abgelegte Pkw-Lenker anzufahren. In Bussen sei eine Vollbremsung besonders schlimm, da sich dabei Fahrgäste gefährlich verletzen könnten. Haben Autofahrer einen Bus zur Vollbremsung genötigt, fahren die meisten einfach weiter, sagt Schröter. Er nennt das Fahrerflucht.

Studie Die Unfallforschung der Versicherer (UDV) hat etwa 4100 Straßenbahnunfälle aus den Jahren 2009 bis 2011 in 58 deutschen Städten analysiert. In Stuttgart wurden im Untersuchungszeitraum 44 Personen schwer verletzt oder getötet. Damit liegt Stuttgart, bezogen auf die Streckenlänge des Straßenbahnnetzes deutschlandweit an 24. Stelle, auf die Einwohnerzahl bezogen auf Platz 20.

Opfer Etwa drei Viertel der in Deutschland getöteten Verkehrsteilnehmer bei Straßenbahn-Unfällen sind Fußgänger, rund 16 Prozent Radfahrer. Fußgänger stellen mit 37 Prozent den weitaus größten Anteil an Schwerverletzten dar, gefolgt von  Pkw-Insassen (28 Prozent) sowie Radlern (15 Prozent). uro