Redaktionshandbuch Europäische Union

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Copyright Uwe Roth, List-Verlag München 1 998, ISBN 3-471 -78564-7

Vorwort

Heißt es nun korrekt Europäische Gemeinschaft oder generell Europäische Union? Existiert die EG seit Maastricht überhaupt noch? Ist der EG-Vertrag gleichzusetzen mit dem EU-Vertrag? In Seminaren ist es ein leichtes, Medienmenschen – sofern sie nicht in Brüssel, am Hauptort des EU-Geschehens, arbeiten – mit solchen Fragen komplett zu verwirren.
Dabei ist es nicht die Absicht, mit Kleinkariertem die Kolleginnen und Kollegen aufs Glatteis zu führen. EG und EU sind Schlüsselelemente zum Verständnis von Europapolitik. Journalistinnen und Journalisten, die zwischen den beiden Begriffen zu unterscheiden wissen, kommen bei aktuellen Themen wie der Bekämpfung der organisierten Kriminalität in Europa oder der Bewertung europäischer Außenpolitik zu einem differenzierteren Rechercheergebnis als diejenigen, die es nicht wagen oder wagen wollen, einen genauen Blick in die Black Box „Europa“ zu werfen.

Schon mit Grundkenntnissen von den Strukturen der Europäischen Union läßt sich die Black Box aufbrechen. Das Redaktionshandbuch ist dafür ein nützliches Werkzeug. Es bietet mehrere Möglichkeiten, den Hebel anzusetzen: Je nach Zeit und Wißbegierde kann man sich in die Materie beliebig vertiefen, indem man sich von einem Stichwort zum nächsten leiten läßt. Mit selbst formulierten Übergängen können mehrere Stichworte auch Grundlage eines Artikels oder einer Artikelserie sein. Die Stichwörter können honorarfrei als Textbausteine in die Berichterstattung eingebaut werden. Man kann sie ebenso in einem Was-bedeutet?-Kasten als Erläuterungen einem Bericht beistellen. Allerdings müssen die Texte in der Regel redaktionell bearbeitet werden, weil versucht wurde, jedes Stichwort mit den Begriffen aus dem gleichen Themengebiet zu vernetzen. In den Texten sind nützliche Verweisworte integriert, die auf verwandte Themen weisen. Das Lexikon dient eben nicht nur zum redaktionellen Gebrauch, sondern vor allem als Nachschlagehilfe der eigenen Orientierung.

Die Stichwörter haben unterschiedliche Qualitäten: Die meisten sind der EU-Fachsprache entnommen. Darunter einige sehr abstrakte wie Acquis communautaire, Kohärenz oder Komitologie. Die feststehenden Begriffe fallen in Reden und finden sich in Dokumenten, die die Entwicklung der Europäischen Union zum Gegenstand haben. Die für Außenstehende nichtssagenden Begriffe werden gewöhnlich als Schlagwort für sehr komplexe Zusammenhänge verwendet,. In den genannten Beispielen umschreiben sie wichtige Aspekte der EUErweiterung und der Demokratie in der EU.

Andere Begriffe gehören zur Alltagssprache und haben auf den ersten Blick nichts mit Europa zu tun: Beispiele sind Autokauf, Führerschein oder Spielzeug. Sie eröffnen einen etwas anderen Einstieg zu den eigentlichen Begriffe, hier: Warenverkehr, Harmonisierung, Produkthaftung und –sicherheit.

Ratspräsidentschaft, Generalartikel, EG-Vertrag oder auch Außenpolitik sind Begriffe einer weiteren Kategorie Stichwörter: Diese leitet die Leserinnen und Leser mit einigen Hinweisen zur ersten Orientierung, aber ohne ausführliche Erklärung zu den eigentlichen Begriffen im Redaktionshandbuch.

Über das umfangreiche Register, die zahlreichen Recherche- und Internet-Adressen hinaus bietet das Redaktionshandbuch einen weiteren Einstieg in die EU-Materie:. Nach Möglichkeit sind die entsprechenden Vertragsartikel zum Thema erwähnt. Das wurde nicht gemacht, um das Publikum mit Paragraphenwissen zu beeindrucken. Die Nennung der Fundstelle kommt dem Journalistenwunsch entgegen, manche Passagen im Vertrag selbst nachzulesen. Und zugegeben: Manchmal ist das Original in seiner Prägnanz unschlagbar.

Die Redakteurinnen und Redakteure sollen angesichts knapper Zeitressourcen nicht lange nach dem richtigen Stichwort suchen müssen, sondern auf unterschiedliche Weisen rasch fündig werden. Der Aufbau des Handbuchs mit Fach-, Alltags-, Kreuzungsbegriffen und Register erhöht die Trefferquote. Doch dafür ist dann nicht jeder Textbaustein gleichermaßen zur Übernahme in die Berichterstattung geeignet.

Die Beschäftigung mit dem Redaktionshandbuch läßt hoffentlich erkennen: Die Europäische Union ist weniger kompliziert, als es den Anschein hat. Die Zahl der relevanten Verträge, die die Legitimationsgrundlage für das Handeln der EU-Institutionen bilden, ist mit drei überschaubar, den Vertrag von Amsterdam schon mitzählt. Es gibt lediglich zwei grundlegende Gesetzestypen: Richtlinien und Verordnungen. Das ist weniger, als wir es in Deutschland kennen. EU-Politik ist – wenn überhaupt – nur am Rand von Parteieninteressen durchsetzt, die Sachfragen stehen im Vordergrund. Im Vergleich zur Bundespolitik ist die Pragmatik in der Arbeit der Europa-Beamten und -Abgeordneten sehr wohltuend. Unübersichtlich allerdings sind die Zuständigkeiten: Welche Politikbereiche fallen überhaupt in die Zuständigkeit der Europäischen Union? Wer hat die Kompetenz, die Entscheidungen zu treffen?

Eine Folge davon ist, daß bei jedem Mißstand in der EU, ohne lange nachzuhaken, „Brüssel“ die Schuld gegeben wird. Hinter allem Schlechten wird Europa vermutet. Was den nationalen Politikerinnen und Politikern sehr recht ist. Sie weisen Verantwortung von sich. Dabei „vergessen“ sie, die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, daß in ganz zentralen Politikbereichen die Zuständigkeit und damit die Verantwortung noch weitgehend auf nationaler Ebene liegt. Dazu gehören die Innen- und Justizpolitik sowie die Außenpolitik.

Gleiches gilt für die europäische Umwelt- und Verbraucherpolitik: Die Europäische Union hat zweifelsfrei eine starke Gesetzgebungszuständigkeit. Aber die Überwachung, ob die Gesetze auf regionaler und lokaler Ebene eingehalten werden, gehört nicht dazu. Diese Aufgabe ist auf der nationalen Ebene verblieben. Es gibt keine europäische Umwelt- oder Gesundheitspolizei. Nicht weil sich die Europäische Kommission vor dieser Aufgabe
drückt, sondern weil dies die Mitgliedsländer bislang nicht wollen.

Eine wichtige Aufgabe des Redaktionshandbuches ist, bei jedem Thema herauszuschälen, ob die „Organisation EU“ oder der einzelne Mitgliedstaat die Verantwortung trägt. Bei der Recherche sollte stets klar sein, ob man tatsächlich einem europäischen Thema auf der Spur ist. Oder ob die Information, die das Signalwort „Europäische Union“ enthält und Ausgangspunkt einer Recherche ist, bei genauem Hinsehen nicht auch in die gewohnte Palette der Bundes-, Landes- oder Kommunalpolitik gehört. Die meisten EU-Gesetze müssen schließlich in nationales Recht umgesetzt werden. Dementsprechend tritt das EU-Thema als deutsches Recht in Erscheinung.

Viele Berichte entstehen nicht, weil der Redakteur oder die Redakteurin der Überzeugung ist, dies sei eine Geschichte, die in Brüssel recherchiert werden müsse, dies aber außerhalb der redaktionellen Möglichkeiten liege. Wenn ein Thema aufkommt, wird folglich gewartet, bis der Korrespondent oder die Nachrichtenagenturen reagieren. Natürlich sagen Bundespolitiker ständig etwas zu Europa, was in den Medien Niederschlag findet.

Doch auch die wohlwollendsten Befürworter Europas haben die nationale Brille auf. Eine große Zahl Themen, die die EU als Hintergrund haben, können in Deutschland recherchiert werden. Jedes Ministerium auf Bundes- und Landesebene hat eine Europaabteilung. Gleiches gilt für die großen Verbände. Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament haben in Deutschland Vertretungen mit Pressereferenten. Nicht zu vergessen die Heimatbüros der Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die ebenfalls Anlaufstellen für Recherchen sind.

Voraussetzung für eine gute Berichterstattung ist allerdings, daß die Redaktion dem Informanten mit eigener EU-Kompetenz begegnet. Sonst fällt gar nicht auf, wenn die befragte Person beim Thema selbst unsicher ist. Scheinbar Plausibles wird dann gutgläubig weitergegeben. Der Mix aus Brüsselberichten und selbst recherchierten Artikeln macht eine gute Europaberichterstattung aus. Darin eingeschlossen die Lokalredaktionen. Während der Korrespondent die EU-Nachricht verarbeitet, recherchiert die Heimatredaktion die regionale Auswirkung dieser Nachricht. Dann treten die Akteure in Erscheinung, die vor Ort für Europathemen zuständig sind und für ihre Arbeit verantwortlich gemacht werden können.

Weiterbildung ist in Sachen Europa angesagt. Für Seminare fehlt Journalisten meist die Zeit. Daher wäre zu wünschen, daß dieses Redaktionshandbuch nicht nur als praktisches Textarchiv betrachtet wird, sondern Anlaß gibt, sich selbst mit der Materie Europäische Union besser vertraut zu machen.