SWP Uwe Roth 17.05.2017
Touristen können sie buchen wie jeden Stadtführer: Menschen mit einer geistigen Behinderung zeigen Gästen Stuttgart aus ihrer besonderen Sicht. Von Uwe Roth
Stuttgart Philipp, Erika, Andrea und Marion haben viele Gäste durch die Stuttgarter Innenstadt geführt. Als Team sind sie im Schnitt jede zweite Woche mit einer Gruppe zwischen Altem Schloss, Schillerplatz, Rathaus, Karlsplatz und der Oper unterwegs. Das bereits seit einigen Jahren. Doch diese Gästeführer sind von einer Routine trotz aller Erfahrung weit entfernt. „Wir sind Menschen mit geistiger Behinderung, die ihm Rahmen des Projekts Blickwechsel zu Gästeführern für Stuttgart ausgebildet wurden.“ So stellen sie sich in ihrem Faltblatt vor. Sie sind nicht die üblichen Touristenführer mit einem Fähnchen in der Hand, die von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten hetzen und die komplette Stadtgeschichte in zwei Stunden abspulen. Wer mit Philipp, Erika, Andrea und Marion unterwegs ist, muss sich ein wenig entschleunigen
Sie haben den Schritt in die Öffentlichkeit selbst gemacht. Das ist nicht gewöhnlich. Schließlich treffen sie dort jedes Mal auf wildfremde Menschen. Normalerweise bleiben Menschen mit Lernschwierigkeiten im Hintergrund. Sie arbeiten in besonderen Werkstätten, abgeschirmt von der Außenwelt. Ein Wechsel des Arbeitsplatzes kommt selten vor. Manchmal bekommt einer von ihnen eine Arbeit in einem Inklusionscafé. Dort sind dann Menschen ohne Behinderung Gäste, mit denen Menschen mit einer Behinderung ins Gespräch kommen. Ansonsten gibt es eher selten Berührungspunkte in der Stadtbahn zur Arbeit oder abends zurück in die Wohngruppe.
„Es erschließt sich der Blick für andere Menschen“
Erwachsene mit einer geistigen Behinderung erleben Inklusion kaum. Aus ihrer Sicht scheint Inklusion etwas zu sein, dass nur in Schulen stattfinden soll und selten in ihrer Arbeitswelt oder Freizeit. Andrea Dikel ist Sozialpädagogin beim Caritasverband Stuttgart. Sie hatte vor zehn Jahren die Idee zu diesem besonderen Projekt Blickwechsel. Es erreicht genau das, was Inklusion bedeutet: Nicht die Behinderten müssen sich anpassen, sondern die Anderen, die Gäste, müssen sich auf die Behinderung ihrer Stadtführer einlassen. „Während eines Urlaubs habe ich erfahren, es ist sehr schön, mit diesen Menschen zu reisen, Neues zu entdecken. Ihre Langsamkeit hat einen besonderen Wert. Es erschließt sich der Blick für andere Menschen“, sagt Dikel. Daher Blickwechsel. Normalerweise werden Menschen mit einer geistigen Behinderung geführt. In diesem Fall führen sie.
Darauf hat sich die Riege der ersten sieben Gästeführer zwischen 2007 und 2010 drei Jahre lang intensiv vorbereitet. „Wir konnten die Texte nicht einfach aus Geschichtsbüchern abschreiben. Wir haben alles gemeinsam erarbeitet und geübt“, sagt die Caritas-Mitarbeiterin. Auch ein längeres Gedicht haben sie aufgeschrieben. Was man im Kopf hat, muss man nicht mühsam vom Blatt ablesen. Die Aufgaben wurden sorgfältig verteilt. Erika kann sich besonders gut Zahlen merken. Sie ist für Geschichtszahlen zuständig. Philipp ist der Geschichtenerzähler. „Jeder bringt seine Stärken ein.“ Drei unterschiedliche Stärken ergeben eine Stadtführung der besonderen Art.
Sie lieben die kleinen Geschichten
Offizielle Stadtführer erzählen Anekdoten am Rand. Historische Fakten stehen im Mittelpunkt. Bei Philipp, Andrea, Erika und Marion ist das eher umgekehrt. Sie lieben die kleinen Geschichten, die so nicht im Geschichtsbuch stehen. Die Entstehungsgeschichten von der Kehrwoche und der Brezel gehören zum festen Bestandteil. Erika erzählt, dass der Herzog, der im Alten Schloss residierte, seine Geliebte gegenüber im Prinzenbau untergebracht hatte. Täglich habe er sich besucht. Am späten Nachmittag habe er zurückmüssen. „Das hat er sehr ungern gemacht.“ Philipp zeigt auf der Rückseite des Schlosses hoch oben auf eine Inschrift: ELHZW. Das steht für Eberhard Ludwig, Herzog zu Württemberg, weiß Philipp. Da der Adlige aber lange ungeniert mit seiner langjährigen Mätresse Wilhelmine von Grävenitz rumgemacht habe, hätten die Stuttgarter daraus „ein Lump hat zwei Weiber“ gemacht.
Die Gästeführer von Blickwechsel, die selbst alle in Stuttgart leben und arbeiten, haben es mit ganz unterschiedlichen Gruppen zu tun. Es sind Schulklassen, Menschen mit Lernschwierigkeiten von außerhalb der Stadt und selbstverständlich auch Touristen. „Es waren sogar schon welche aus Schweden da“, berichtet Philipp. Da war sogar ein Dolmetscher im Einsatz. Üblicherweise begleitet Andrea Dikel die Gruppe. Weil es so gut läuft, sind derzeit weitere Gästeführer in der Ausbildung. Die Grundlagen sind bereits erarbeitet, so dass sie in einem Jahr auf ihre Aufgabe vorbereitet sein werden. Jede Stadtführung, dessen sind sie sich bewusst, wird eine neue Herausforderung sein. Egal, wie viele sie erfolgreich geschafft haben. Auf Routine werden sie nicht hoffen können.
Info
Die Führung durch die Stuttgarter Innenstadt dauert etwa 70 Minuten. Für eine Gruppe mit maximal 25 Personen kostet sie 80 Euro. Kontakt: Andrea Dikel, Telefon 0711 95454-450 oder E-Mail a.dikel@caritas-stuttgart.de.
Das Projekt Blickwechsel wird getragen vom Caritasverband für Stuttgart e.V. und wurde gefördert von der Baden-Württemberg Stiftung. uro