Stuttgarter Nachrichten Uwe Roth 09.02.2010
THEMA: Die EU-Abgeordneten machen gegenüber der Kommission Boden gut
Die heutige Abstimmung des Europaparlaments über die neue Kommission ist nur noch ein formaler Akt. In Gedanken sind die Abgeordneten längst weiter: Denn am Donnerstag werden die Parlamentarier tatsächlich ihre politischen Krallen ausfahren und das Swift-Abkommen, das den USA den Zugriff auf vertrauliche Bankdaten in der EU erlaubt, höchstwahrscheinlich aus seiner rechtlichen Verankerung reißen.
So selbstbewusst hat sich das Parlament selten in die Beziehungen der EU mit den USA eingemischt. Bereits an ihrem zweiten Arbeitstag dürfte die Kommission damit die erste Niederlage kassieren. Das trifft insbesondere Kommissionschef José Manuel Barroso, der als Konservativer von der konservativen Mehrheit geschlagen wird.
Das Europäische Parlament ist im Rampenlicht der EU-Politik angekommen. Wer Beispiele sucht, muss bloß einen Blick auf die aktuelle Plenartagung werfen. Darin befasst es sich – außer mit Bankdaten – mit den umstrittenen Ganzkörperscannern, der Unterbringung von Guantánamo-Häftlingen, dem sozialen Wohnungsbau und mit einem Rechtsanspruch auf Vaterschaftsurlaub. Es sind Themen, die auch auf nationaler Ebene bewegen, über die aber immer häufiger der EU-Gesetzgeber zu entscheiden hat.
Das gewachsene Selbstbewusstsein lässt sich nur teilweise mit dem Lissabon Vertrag begründen. Er hat das Parlament zwar endgültig auf Augenhöhe mit dem Ministerrat gebracht – von wenigen Politikbereichen abgesehen. Doch die Lust am politischen Taktieren schöpfen die EU-Abgeordneten vor allem daraus, dass es für sie zunehmend einfacher wird, die EU-Kommission im Alltagsgeschäft vor sich herzutreiben.
Die 26 Kommissionsmitglieder, darunter der neue Energiekommissar Günther Oettinger, werden heute in einem einzigen Abstimmungsvorgang gewählt. Aber sie erhalten nicht die gleiche Macht wie ihre Vorgänger. Die Abgeordneten haben zwar mit Brimborium die Anhörung der Kandidaten durchgezogen, das wahre Machtspiel fand jedoch hinter den Kulissen statt: Sie nutzten die Gunst der Stunde, ihr Machtverhältnis zur Kommission in einigen grundlegenden Punkten neu zu ordnen. Dem Parlament fehlt zwar nach wie vor das Initiativrecht. Es hat aber lange schon die Möglichkeit, über einen Initiativbericht die Kommission anzuregen, gesetzgeberisch tätig zu werden. Die Kommission konnte dem folgen – oder es bleiben lassen. Letztere Variante fällt nun weg. Während vorn die Kandidaten getestet wurden, machte die Parlamentsspitze hinten dem Kommissionschef deutlich, dass er auf solche Berichte künftig zwingend zu reagieren habe.
Barroso stimmte zu, ansonsten hätte es die heutige Abstimmung nicht gegeben, und Oettinger hätte als abgewählter Ministerpräsident eine weitere Runde in der Warteschleife gedreht.
Das Parlament kann sich auch deswegen in Szene setzen, weil nicht nur bei der Kommission die treibenden Kräfte nachlassen. Auch die 27 Mitgliedstaaten scheinen das Interesse an der EU allmählich zu verlieren. Die EU-Ratspräsidenten, derzeit ist es Spanien, machen Dienst nach Vorschrift. Vielleicht deswegen, weil sie sich neben dem ersten Dauerratspräsidenten, dem Belgier Herman Van Rompuy, nicht mit der Rolle des Co-Moderators begnügen wollen. Es hakt auch noch woanders: Trotz Machtgewinns kann das Parlament nichts daran ändern, dass der EU die Ziele abhandengekommen sind. Der Lissabon-Vertrag ist durch, das Klimaabkommen durchgefallen, spektakuläre Erweiterungen sind Fehlanzeige, die Lissabon-Strategie ist im Sand verlaufen. Im Moment bleibt ihr nur, den Euro zu retten. Irgendwie. Das ist eine bedeutende Aufgabe. Was danach kommt, wird man sehen.