ZVW Uwe Roth 24.09.2015
Waiblingen. Die meisten Versicherten treiben quälende Gelenke oder zerrende Muskeln zum Arzt. Das besagt der DAK-Gesundheitsreport 2014. Das ist seit Jahren so. Auf den zweiten Platz haben sich mittlerweile die psychischen Erkrankungen vorgeschoben. Und immer mehr Menschen versuchen es mit Gehirndoping gegen Stress im Job.
Es ist die Idealvorstellung von Maximalleistung im Beruf oder Studium: Man ist stundenlang hochkonzentriert und holt aus seinem Gehirn das Letzte heraus, bleibt dabei völlig entspannt und gleichzeitig energiegeladen. Abends gelingt das Abschalten wie auf Knopfdruck. Alkohol- und tablettenfrei. Kaum jemand bekommt das hin. Wer nicht zu diesen wenigen Glücklichen gehört, hat in der Regel gelernt, mit Abstrichen von der Maximalleistung und mit dem Stress am Arbeitsplatz zu leben, ohne dass er in einem größeren Umfang seine Psyche mit Hilfsmitteln stabilisieren muss. Jeder Zehnte aber, so die Schätzung, greift entweder zu verschreibungspflichtigen Medikamenten, um seine Leistung zu steigern oder besser drauf zu sein, oder würde auf solche Mittel im Bedarfsfall zurückgreifen.
Die Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK) ist für ihren aktuellen Gesundheitsreport der Frage nachgegangen, wie verbreitet das Gehirndoping unter ihren Versicherten ist. Unter den Begriff Gehirndoping fallen verschreibungspflichtige Medikamente, die ohne medizinische Notwendigkeit eingenommen werden. Diejenigen, die sie einnehmen, erhoffen sich eine bessere Gedächtnisleistung, geistig hellwach zu sein und auch eine bessere Konzentration. Dafür gibt es Stimulanzien und Antidementiva. Wer gute Laune sucht, seine Schüchternheit überwinden oder Stress beziehungsweise seine Nervosität bekämpfen will, versorgt sich aus der Medikamentengruppe Antidepressiva und Betablocker.
Die DAK hat Erwerbstätige unter ihren Mitgliedern dazu befragt und auf ehrliche Antworten gehofft. Immerhin drei Viertel der Befragten geben zu, dass sie etwas von Hirndoping gehört haben und entsprechende Mittel kennen. Wer aber gibt auch bei einer anonymen Befragung gerne zu, dass er tatsächlich regelmäßig Tabletten schluckt, die für ganz andere Krankheitsbilder gedacht sind, er folglich einen Medikamentenmissbrauch betreibt? Mittel für überaktive Kinder, die unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung leiden, besser bekannt als ADHS, können auch dazu dienen, die Konzentration anzukurbeln.
Männer wollen Leistung steigern, Frauen aus dem Stimmungstief raus
DAK-Mitarbeiter Martin Kieninger und Elke Wallenwein, Leiterin der Psychosozialen Beratungsstelle beim Kreisdiakonieverband, haben in Waiblingen die Studie gemeinsam vorgestellt. Sie kennen Fälle, in denen Eltern das Rezept, das der Arzt für ihr an ADHS erkranktes Kind ausgestellt hat, eigennützig verwendeten. Medikamente für an Demenz oder Alzheimer erkrankte Menschen stehen wiederum im Ruf, die Gedächtnisleistung zu verbessern. Generell, so haben die Forscher herausgefunden, suchen Männer die Leistungssteigerung, Frauen hingegen etwas, um aus Stimmungstiefs herauszukommen.
Etwas mehr als die Hälfte solcher Rezepte, die letzten Endes missbräuchlich eingelöst werden, so hat die Befragung ebenfalls ergeben, werden von einem Arzt ausgestellt. Über die Motive der Ärzte, ohne ein konkretes Krankheitsbild derartige Medikamente zu verordnen, wollen Kieninger und Wallenwein nicht spekulieren. Ein der Zeitknappheit geschuldetes unzureichendes Patientengespräch könnte zumindest eine Ursache sein. Eine Fehlverordnung im großen Stil können sie nicht erkennen. Wer sich die vermeintlichen Wunderpillen nicht vom Arzt beschaffen kann, wird beispielsweise von Freunden, Bekannten oder Familienangehörigen versorgt oder kauft im Internet das entsprechende Mittel ein. Die Quellen werden immer zahlreicher.
Vordergründig scheint es die ideale Lösung zu sein, um im Job stressfrei ambitionierte Ziele zu erreichen: Eine Pille und Körper und Geist nehmen an Fahrt auf. Im Büro stört sich daran niemand, wenn ein Kollege oder eine Kollegin vor allen Augen die Pillendose öffnet und etwas von Aspirin murmelt. Ganz anders wäre die Reaktion beim Öffnen einer Dose Jack Daniels während der Arbeitszeit – Alkoholsucht fällt auf, Medikamentenmissbrauch dagegen nicht.
„Früher oder später führt jede dieser Pillen zu einer Sucht“, sagt die Suchtberaterin Wallenwein. Erst reicht eine Pille, um seinen vermeintlichen Idealzustand zu erreichen, dann mit der Zeit kommt das Gefühl hoch, man nimmt besser zwei Pillen, damit sich Zufriedenheit einstellt. „Die psychische Abhängigkeit ist die eigentliche Krux“, sagt die Beraterin. Körperlicher Abhängigkeit kann mit einem Entzug begegnet werden. Spätestens wenn man merkt, dass eine normale Dosis keine Wirkung mehr zeigt und eine höhere hinter den Erwartungen zurückbleibt, sollte man schleunigst eine Beratungsstelle aufsuchen, sagt die Mitarbeiterin vom Kreisdiakonieverband.
Martin Kieninger hingegen verweist auf präventive Angebote seiner Krankenkasse wie Kurse zur Stressbewältigung oder auch Sport- und Bewegungsprogramme. Er sagt: „Auch wenn Doping im Job noch kein Massenphänomen ist, sind diese Ergebnisse ein Alarmsignal.“ Nebenwirkungen und Suchtgefahr seien nicht zu unterschätzen.