Sonntag Aktuell Uwe Roth 15.03.2009
Die Europawahl im Juni ist ebenso entscheidend wie die Bundestagswahl im Herbst. Nur: Die Wähler wissen davon wenig. Schuld sind auch die Parteien. Ihr Blick ist stur auf Berlin und die Länder gerichtet. Die EU dient als Sündenbock.
Es kommt selten vor, dass sich ein CDU-Mitglied öffentlich über ein anderes erregt. Daniel Caspary ist ein junger Europaabgeordneter aus der Nähe von Karlsruhe und hat sich mit einem Funktionsträger seiner Partei angelegt – mit Europaminister Wolfgang Reinhart. Der hat einen „unabhängigen EU-Normen-Tüv“ gefordert, um sich mit derartigen Reizworten medienwirksam eine Gelegenheit zu verschaffen, erneut die leidige Brüsseler Bürokratie zu bekritteln. Caspary reagiert genervt: Reinhart wiederum brauche wohl dringend „einen Presse-Tüv“, kontert er, eine Kontrollinstanz, die den wahren Gehalt seiner Attacken gegen die EU prüft, bevor diese in die Öffentlichkeit geraten.
Reinhart (52) begründet sein Verlangen nach einer Prüfinstanz überraschenderweise mit der seiner Meinung nach mangelhaften Leistung von Edmund Stoiber. Der frühere bayerische Ministerpräsident sollte die EU-Verwaltung von überflüssigen Bürokratenpfunden befreien, scheint damit aber überfordert zu sein. Minister Reinhart gibt dafür jedoch keineswegs der Unerfahrenheit Stoibers in EU-Angelegenheiten die Schuld, sondern – wie eigentlich immer – der EU-Kommission: Der Bayer hänge am Gängelband und könne deshalb nicht durchgreifen.
Querschüsse aus Stuttgart, die sich an Vorurteilen entzünden, ärgern Caspary, egal aus welcher Partei sie kommen: „Bevor der Minister der EU gut gemeinte Ratschläge gibt, sollte er lieber in seinem Verantwortungsbereich die Hausaufgaben machen“, rät der 32-jährige Europaparlamentarier. Die Stabsstelle Bürokratieabbau der Landesregierung sei schließlich auch nicht unabhängig, sondern Teil der Landesverwaltung. Während es Wolfgang Reinhart mit seiner Attacke bis in die Nachrichtenmagazine schaffte, bleibt die Gegenwehr des EU-Abgeordneten ungehört.
Es mangelt an Anerkennung
Europapolitiker müssen mit einer bruchstückhaften Wahrnehmung leben. Zu Hause hört man ihnen in der Partei nur dann aufmerksam zu, wenn sie sich selbst kritisch zur EU äußern. Werben sie hingegen um Verständnis für das, was aus Brüssel kommt, wird das in der Regel geflissentlich überhört. Als EU-Vertreter hält man sie an der Basis für befangen und wenig objektiv. Obwohl es an allgemeiner Anerkennung mangelt, beklagen Europapolitiker ihr Verhältnis zu den Landtags- und Bundestagskollegen nicht grundsätzlich. Denn es war schon merklich distanzierter, und jeder Fortschritt wird wohlwollend zur Kenntnis genommen. Das Verständnis füreinander sei größer geworden, stellt die CDU-Europaabgeordnete Ingeborg Grässle aus Heidenheim fest. „Alle fremdeln weniger“, sagt sie und betont, dass ihre Parteibasis Europa mittlerweile zu schätzen wisse.
Gleichzeitig seien die Willigen in der Partei frustriert, weil das Desinteresse der Bürger an EU-Themen unüberwindbar zu sein scheine. Ihr Fraktionskollege Rainer Wieland aus Gerlingen spürt frisches Verständnis für EU-Angelegenheiten vor allem im neuen Europaausschuss des Landtags. Allerdings werde EU-Politik oft noch als „Spielball der Bedeutungsbefindlichkeiten“ zwischen den Ebenen Europa, Bund, Land missbraucht, soll heißen, wem die EU nicht ins Weltbild passt, der schiebt ihr kurzerhand den Schwarzen Peter zu.
Lobbyismus in eigener Sache
Heide Rühle, die Abgeordnete der Grünen aus Stuttgart, unternimmt viel, um sich bei ihrem Landesverband regelmäßig ins Gedächtnis zu bringen. Sie organisiert Podiumsdiskussionen zu aktuellen EU-Themen im Stuttgarter Landtag, zu denen sie prominente Teilnehmer lädt. Nicht zuletzt an der Zahl der Besucher ihrer Internetseite sieht sie ihre Arbeit bestätigt, wie Rühle sagt. Evelyne Gebhardt hat sich in der zu Ende gehenden Legislaturperiode mit der sogenannten Dienstleistungsrichtlinie in ihrer Partei Gehör verschafft und sich damit im Internetauftritt der Landes-SPD auf die vorderste Seite hochgearbeitet. Nun gehört sie zum harten Kern der Genossen im Land.
Den Landtags- und Bundestagsabgeordneten dämmert es nur langsam, welche Macht ihre früher so belächelten Europakollegen mittlerweile haben und dass diese politisch unter Umständen mehr bewegen können als sie selbst. Auch die Mitglieder der Landesregierung haben das inzwischen gemerkt. Die Minister reisen unter Umgehung des Landtags immer häufiger nach Brüssel, um dort direkt Einfluss auf drohende EU-Vorschriften zu nehmen. Minister Peter Hauk beispielsweise wird regelmäßig in der EU-Kommission vorstellig, um seine Auffassung von Verbraucherschutz darzulegen.
Ob seine Änderungswünsche an einem Gesetzesentwurf der EU tatsächlich gehört werden, entscheidet eben nicht der Landtag, sondern das Europaparlament zusammen mit dem Ministerrat. Eine Richtlinie der EU, die das Land betrifft, muss am Ende der Gesetzgebungskette vom Landtag umgesetzt werden. Den Inhalt können die Abgeordneten allerdings nur noch abnicken.
Heidenrespekt vor Europaabgeordneten
Selbst Bundesminister haben inzwischen einen Heidenrespekt vor den Europaparlamentariern, auch wenn sie das nicht offen zugeben. Jeder einzelne Brüsseler Abgeordnete kann ihnen gehörig in die Suppe spucken. Da die EU keine Regierung hat, gibt es im Europaparlament keine Regierungsfraktion und auch keine Oppositionen, somit auch keine klaren Trennungslinien zwischen den Parteiengruppen.
„Das Europaparlament arbeitet ausgesprochen sachorientiert“, sagt die Haushaltsexpertin Ingeborg Grässle. Gewiefte Abgeordnete schaffen es immer wieder, trotz Gegenwind aus dem Ministerrat einem Gesetzesentwurf eine neue Windrichtung zu geben. In zahllosen Gesprächen mit Mitgliedern unterschiedlicher Fraktionen sammeln sie eine ausreichende Zahl von Stimmen, die den Ministerrat (in dem die Regierungsvertreter der 27 EU-Staaten vertreten sind) zu Kompromissen zwingt, die er so nicht haben wollte.
EU-Mandatsträger unterliegen keiner strikten Fraktionsdisziplin. „Das macht den einzelnen Abgeordneten unabhängiger, schwächt aber durch komplexere Entscheidungsprozesse die Wahrnehmung in den Medien“, sagt der CDU-Abgeordnete Wieland. Eine bessere Wahrnehmung ihrer Arbeit und insgesamt der EU sei der Schlüssel, sagen die Parlamentarier, um das Potential dieser Staatengemeinschaft zu mobilisieren. Fragen, wie sich die EU weiter entwickeln sollte, seien oft rückwärtsgewandt gestellt, sagt Wieland. Übersehen werde, dass für lange Überlegungen den Europäern keine Zeit bleibt. Bestand und Weiterentwicklung der EU seien zur Gretchenfrage geworden, „ob unser traditionsreicher Kontinent noch eine Zukunft hat.“