Carmens Clique lebt im Chatroom

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Sonntag Aktuell Uwe Roth 27.11.2005

„Bist du am Nachmittag im Chat?“ Als Treffpunkt ist weder ein Jugendhaus noch eine Kneipe gemeint, sondern das Internet. Dorthin verlagern junge Leute ihre Cliquen. Chatrooms heißen die neuen Kuschelecken, in denen über PC-Tastatur das Leben in der Gemeinschaft erprobt wird. Eltern ist diese Welt völlig fremd.

Es ist ein tägliches Ritual: Carmen (14) packt meistens so gegen 16 Uhr die Schulbücher und Hefte beiseite. Sie greift sich ihr Handy, zu dem sie auch während der Haus- aufgaben den Blickkontakt nie verloren hat. Ihr Daumen schlägt flink kurze Haken auf den zwölf Tasten. Sekunden später ist die beste Freundin mit der Kurzbotschaft „Du auch?“ über ihre weitere Nachmittagsplanung informiert. Übersetzt heißt Carmens Handynachricht: Ich bin jetzt mit Mathe fertig und gleich im Chat. Kommst du auch? Sarah, die Freundin, tastet eine ähnliche SMS an eine weitere Mitschülerin, die dann ihrerseits eine Freundin informiert und so weiter.

Kaum eine Viertelstunde später sind alle Mädels beieinander – Carmens Clique. Aber die Jugendlichen sehen, hören und fühlen sich in den nächsten Stunden nicht. Sie sitzen jede für sich allein vor dem Computer und surfen im Internet. Ihr Treffpunkt liegt abseits realer Straßen auf einem Datenspeicher – irgendwo auf der Welt. Sie teilen sich das digitale Forum an diesem Nachmittag mit zigtausenden anderen jungen Menschen, die ihre Freizeit in den eigenen vier Wänden verbringen, ohne deswegen einsam zu sein. Sie sind und fühlen sich als Mitglied einer Community.

Community („Gemeinschaft“) ist die moderne Form eines Vereins. Man muss Mitglied werden, indem man am Computerbildschirm ein Formular ausfüllt, für die Mitgliedschaft in der Regel aber nichts bezahlt. Das Vereinsheim steht nicht am Stadtrand, sondern ist eine kunterbunte Internetseite, zu der nur Mitglieder mit Benutzername und Kennwort Zugang haben.

Der Vereinszweck: Spaß haben. Den holen sich die Mitglieder, indem sie unter ihrem Fantasienamen (Nickname) stundenlang Buchstaben über die Computertastatur in den virtuellen Freundeskreis schicken und damit Antworten provozieren. Buchstaben deswegen, weil solche Nachrichten selten aus vollständigen Sätzen bestehen und häufig mit Bildern oder Logos ergänzt werden.

Die jugendlichen Begegnungen werden in so genannten Chatrooms („Plauderräume“) gepflegt. In einigen können die Besucher selbst bestimmen, mit wem sie sich unterhalten möchten, andere Chatrooms stehen allen offen. In solchen Foren ist ein Thema vorgegeben, über das dann diskutiert wird. Ein Moderator achtet darauf, dass die Wortbeiträge das Niveau wahren. Die Themenauswahl kennt kaum Grenzen: Es geht um Schule, Freizeit, Freundschaft und in Foren, in die nur über 16-Jährige dürfen, um Liebe, Erotik und Partnersuche.

Ein solches Vereinsheim, gebaut aus hunderten von Internetseiten, steht in einem Rechenzentrum in Leonberg. 50 vernetzte Computer halten das Vereinsleben am Laufen. Diese Internet-Community ist mit knapp 600.000 Mitgliedern größer als Stuttgart. An einem Freitagnachmittag sind mehr als 7.000 von ihnen zur selben Zeit in den Chatrooms anzutreffen. Zu besonderen Zeiten drängeln sich die Nachrichten von über 20.000 Mitgliedern gleichzeitig in den Datenleitungen. Im Schnitt hat das virtuelle Vereinsheim gut und gerne eine halbe Million Besucher am Tag. Bis zu 14.000 Neumitglieder kommen jede Woche hinzu.

Die Kwick!-Community ist eine der größten in Deutschland. Herr der Online-Gemeinschaft ist Jens Kammerer, der von Plüderhausen aus, einer Gemeinde zwischen Schondorf und Schwäbisch Gmünd, sein Reich verwaltet. Er ist 28 und hat Mitte der 90er Jahre sein Unternehmen als Hobbyprojekt begonnen, wie er sagt. „Bis die ersten 100 000 Mitglieder beieinander waren, hat es allerdings dreieinhalb Jahre gedauert“, sagt der studierte Wirtschaftsinformatiker.

Aber seit 2004 sind die Zuwachsraten astronomisch. Mittlerweile hat Kwick! drei Geschäftsführer und 15 überwiegend junge Mitarbeiter. Sie betreuen nicht nur die Internetseiten, sondern sind vor allem mit der Organisation von Partys beschäftigt. Vorwiegend an Wochenenden trifft sich die Gemeinschaft im realen Leben, verteilt im süddeutschen Raum zu „Flirt-’n‘-Fun“- Events. Mit solchen Veranstaltungen, aber insbesondere mit Werbeanzeigen auf den www.Kwick.de – Seiten verdient das junge Unternehmen sein Geld. Im bescheidenen Rahmen, versichert Jens Kammerer. Die Kwick!Community ist im Land flächendeckend vertreten. „Allein in Geislingen haben wir 7000 Mitglieder“, sagt Kammerer. Somit hat beinahe jeder vierte Einwohner der Stadt am Albaufstieg einen Kwick!-Zugang.

Knapp die Hälfte aller Mitglieder ist jünger als 18 Jahre. Das Mindestalter ist 14, den größten Anteil an der Community hat die Region Stuttgart. „Ganze Schulklassen sind bei uns eingetragen.“ Dass auch Jüngere sich mit falschen Altersangaben reinschleichen, ist den Machern von Kwick! durchaus bekannt. Niemand weiß, wie hoch die Dunkelziffer der unter 14-jährigen Besuchern ist.

Deswegen bemühen sich die Kwick!-Organisatoren um einen besonders hohen Jugendschutz. Das wird ihnen in der jüngsten Studie „Chatten ohne Risiko?“ von der Initiative jugendschutz.net bescheinigt. Pädagogen haben dort die bei Kindern und Jugendlichen beliebtesten Internetseiten bewertet. Bei Kwick! patrouillieren Sheriffs durch die Chaträume, um Pädophile, Rechtsradikale und Krawallmacher fern zu halten. Störenfriede werden der Polizei gemeldet, die den unliebsamen Besucher über die so genannte IP-Adresse, die beim Zutritt in den Chatraum automatisch registriert wird, ausfindig machen können. Kwick! selbst kann das nicht.

Eltern sehen dem Treiben ihrer Kinder meistens hilflos zu, stellt Birgit Gehrlein von der Landesanstalt für Medien und Kommunikation in Ludwigshafen fest. Sie betreut das Projekt klicksafe.de, das sich vor allem mit der Medienkompetenz junger Internetznutzer beschäftigt.

Früher spielten die Kinder auf der Gass‘. Von der Mutter bekamen sie die Warnung mit, diese und jene Straße zu meiden oder auch besonders gefährliche Ecken in der Stadt. „Vom Internet haben die meisten Eltern keine Ahnung“, hat auch Jens Kammerer festgestellt. Sie könnten keine Tipps geben, höchstens das Internetsurfen ganz verbieten, was auch keine Lösung sei.

Welche Auswirkungen das virtuelle Cliquenleben auf die soziale Kompetenz und die Kommunikationsfähigkeiten der jungen Menschen hat, ist nach Auskunft von Birgit Gehrlein noch nicht untersucht. Sie rät Eltern, konsequent das Gespräch mit ihren Kindern zu suchen, sich den Chatroom und die dort üblichen Begriffe erklären zu lassen. Von allein kämen die Kinder nicht auf die Eltern zu, haben die Forscher festgestellt, erst recht nicht, wenn sie schlechte Erfahrungen gemacht hätten.

Carmen (14) hat nach anfänglichen Widerständen ihre Mutter in den Chatraum mitgenommen. Ihre Freundinnen haben zwar *ggg* (gekichert), manche *fg* (fett gegrinst), aber es dann doch 😉 (zwinkernd) akzeptiert.