Amoklauf Winnenden: Sprachlosigkeit schafft immer neue Opfer

Print Friendly, PDF & Email

Sonntag Aktuell Uwe Roth 15.03.2009

Eltern dürfen den Gesprächsfaden zu ihren Kindern nie verlieren, sagt Streitschlichter Siegfried Rapp. Sprachlosigkeit in Familien führt zu Konflikten, die mit der Zeit außer Kontrolle geraten können.

Der Mediator kennt die Situation: An seinem Besprechungstisch sitzen die 13-jährige Tochter, der 15-jährige Sohn, Vater und Mutter. Es wird zwar gesprochen, aber es ergibt sich kein Gespräch. Eigentlich ist die Familie zu Siegfried Rapp gekommen, weil die Eltern sich trennen und mit Unterstützung des Mediators sich darüber unterhalten wollen, wie es mit der Familie weitergehen soll.

Nach kurzer Zeit ist das Thema vom Tisch, stattdessen reden Vater und Mutter heftig auf ihre Kinder ein, nur um überhaupt etwas aus ihnen herauszubringen. Die Jugendlichen wiederum verweigern sich dem Dialog mit kargen Einwortsätzen und Gesprächsstoppern wie „keine Ahnung“ oder „weiß nicht“. Bald unterbricht der Streitschlichter, stellt alles auf null und übt mit der Familie erste Schritt im Gesprächseinmaleins. Ist die Ursache am Kommunikationschaos die Pubertät der Kinder, oder sind es die Eltern, die verlernt haben, mit ihren Kindern zu sprechen? „Das beinhaltet die Frage nach der Gesprächskultur in der Familie“, sagt Siegfried Rapp und erachtet vor allem die Erwachsenen als verantwortlich für die Kulturpflege. “

Das Zauberwort ist, Zeit zu haben und sich Zeit zu nehmen, nicht nur zwischen Tür und Angel, um miteinander ins Gespräch zu kommen.“ Beispielsweise können Einkaufswege genutzt werden, um sich nach dem Befinden des Kindes zu erkundigen. „Man muss sich gemeinsame Gesprächsthemen erhalten, da ansonsten familiäre Parallelwelten entstehen.“ Den Rat des Mediators umzusetzen ist keine Hexerei, und trotzdem scheint es schwierig zu sein.

Aufgabe für die Eltern ist nach seiner Überzeugung, den Informationsfluss nie abreißen zu lassen. Wenn es dennoch passiert ist, entstehen in der Kommunikation Lücken und Hohlräume, in denen es gefährlich gären kann. Je länger die Sprachlosigkeit in der Familie andauert, zwischen dem Austausch von Belanglosigkeiten und gegenseitigem Anschreien gar nichts mehr stattfindet, um so schwerer findet sich ein neuer Gesprächsfaden, den man wieder aufnehmen kann, sagt der Streitschlichter.

Die Sprache, zu der die Jugendlichen im Internet oder beim pausenlosen Versenden von SMS finden, vereinfacht das gegenseitige Verständnis nicht – im Gegenteil: „Für viele Eltern ist die mediale Sprache ihrer Kinder wie eine Fremdsprache“, die auch den Mediator bei seinen Vermittlungsversuchen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen manchmal an seine Grenzen bringt.

Das Entstehen jugendlicher Parallelwelten hat viele Facetten. Vor allem berufstätige Eltern bringen in ihrer Freizeit keine Energie mehr auf, sich in das Leben ihrer Kinder einzuklinken. Jugendliche fühlen sich in der Schule unter Leistungsdruck und nehmen abends ihre gestressten Eltern wahr, mit denen sie nichts anfangen können und die Gott froh zu sein scheinen, wenn sie am Feierabend von den Kindern in Ruhe gelassen werden. Eltern sonnen sich im Gefühl ihrer scheinbaren Toleranz, ihre Kinder trifft es eher als Ignoranz. Abhängen können Teenager stattdessen mit ihren Freunde oder in einem Chatroom im Internet. Sie chillen vorwiegend in erwachsenenfreien Zonen.

Heranwachsende waren früher ständig unter Beobachtung Erwachsener, ob im Verein, in der Kneipe oder auf dem Sport- oder Dorfplatz. Ein volljähriger Aufpasser war immer in der Nähe und griff ein, wenn mal einer übers Ziel hinausschoss.  Zu Hause teilten sie sich ein Zimmer mit einem Geschwister. Das Telefon hing im Wohnzimmer fest an einer Schnur und machte Gespräche deshalb nur vor den Ohren der Eltern möglich. Gab es früher zu wenig Privatsphäre, ist heute genau das Gegenteil der Fall. Kinder haben Einzelzimmer, deren Türe grundsätzlich geschlossen ist, und sie haben ihren eigenen Internetzugang. Im Chatroom ist kein Erwachsener weit und breit. Jugendliche schaffen sich dort ihre eigenen Kommunikationsregeln. Ob diese mit denen ihrer Eltern oder Lehrern kompatibel sind, ist nicht ihr Problem.

Vor der körperlichen Gewalt, kommt die mit Worten, weiß der Mediator. Mitschüler, die nicht den Erwartungen der Gruppe entsprechen, wurden früher als Loser (Verlierer) bezeichnet, heute sind sie Opfer. Das kommt denen locker über die Lippen. Mit Opfern hat man keinen Umgang. Ein bisschen merkwürdiges Verhalten, unmögliche Klamotten oder ein zu nettes Verhältnis zum Lehrer, schnell wird man von der Klasse zum Opfer erklärt. „Aber Opfer können sich irgendwann rächen“, warnt Rapp.

Auch hier sieht er für Eltern einen Ansatzpunkt zum Eingreifen: „Man soll sich erklären lassen, was das Kind unter diesem Begriff versteht.“ Offene Fragen stellen, zuhören, dann erst reagieren. Rapp, der auch Lehrer und Schüler zu Streitschlichtern ausbildet, rät, sich in Schulen mehr mit Sonderlingen und Einzelgängern zu beschäftigen. „Ein 14-Jähriger ist leichter von Gleichaltrigen erreichbar.“ Gewaltprävention meint eben nicht nur körperliche Gewalt, sondern auch verbale. Dazu aber, so sein Fazit, müsse Streitschlichtung Teil des Schullebens werden. Uwe Roth